"Ganz am Ende hat alles gut gepasst. Der Himmel ist bleigrau, der Morgen still, der Schnee schon schmuddlig. Auf dem halleschen Gertraudenfriedhof wird Matthias Tänzer zu Grabe getragen, mitten in einer partiellen Sonnenfinsternis, die wegen der dicken Wolken von der Trauerhalle aus nicht zu sehen ist. Tänzer hat lange gewartet auf diesen Moment. Irgendwann nach dem letzten Sommer ist er gestorben, mit 51. Ende Oktober haben die Nachbarn dann begonnen, sich zu fragen, warum man ihn gar nicht mehr sieht. Es roch auch komisch im Treppenhaus, dabei stand Tänzers Fenster schon seit Monaten offen. Anfang November ließ der Vermieter eine Leiter an die Fassade stellen und jemanden ins Wohnzimmer schauen. Notarzt und Krankenwagen mussten sich nicht mehr sputen.
Große Städte sind häufig Bühne für große Dramen, viel öfter aber Schauplatz von Tragödien so klein, dass sie gar kein Publikum haben. Menschen sterben einsam, wie sie gelebt haben. Sie liegen in ihren Betten, im Flur, im Bad. Und es vermisst sie niemand. 80 Mal im Jahr passiert das allein in Halle. 80 Leben enden, ohne dass jemand es bemerkt. Draußen auf der Straße fahren die Autos, eine Etage höher streitet ein Paar, gegenüber stößt sich ein Kind am Tisch.
Dort gibt es Tränen, hier stell der Notarzt nur noch die Todesursache fest. Keine Spuren von Gewalt, kein Messer im Rücken, keine durchwühlten Schränke. Im Fernsehen käme jetzt die Obduktion. Beim richtigen Sterben ist die zu teuer. Wenn der Tod nicht gewaltsam verursacht worden ist, muss er eine natürliche Ursache haben, sagt die Behördenlogik. Welche das war, ist dann eigentlich auch egal.
Matthias Tänzer, den alle „Matze“ nannten, ist nicht ermordet worden. Woran er starb, weiß allerdings auch niemand. Als Todestag steht „von – bis“ in den Papieren.
Tänzer, der anders hieß, aber nicht mehr gefragt werden kann, ob er seinen Namen veröffentlicht sehen möchte, hätte sich darüber nicht beschwert. „Er war ein ganz Leiser“, beschreibt ihn ein Nachbar, „und wenn er was gesagt hat, dann hatte man meistens den Eindruck, er will sich dafür entschuldigen, dass er da ist.“
Das war nicht ganz zum Schluss, sondern in den Jahren, die wohl seine guten waren. In das Haus im halleschen Norden, in das der Mann mit dem kleinen Pferdezopf und dem Schnauzer kurz nach der Jahrtausendwende gezogen war, hatte es eine Gruppe junger Leute verschlagen. Es gab Partys auf dem Dachboden, Matze Tänzer ist immer eingeladen, als netter Nachbar, dessen Alkoholproblem bekannt ist, den aber alle sympathisch finden. Früher sei er mal Mathematiker und Physiker gewesen, erzählt der schmale, scheue Gast bei einer Gelegenheit. Später habe sein Kombinat die meisten Leute entlassen. Tänzer wird arbeitslos und bleibt es von da an auch. Das Arbeitsamt, sagt er in einem der seltenen Momente, in denen er ungefragt redet, habe ihn zwingen wollen, beim Schlachten von Kälbern zu helfen. „Und das ist für ihn nicht infrage gekommen“, erinnert sich einer der Partygäste.
Lieber ging Matthias Tänzer Flaschen sammeln. Er wurde zu einem der Männer, die vormittags vor dem einen Supermarkt stehen, ehe sie nachmittags zum anderen wechseln. „Er hat immer viel getrunken“, sagt ein Bekannter, „aber er war nicht stolz darauf.“ Und nie laut, nie gewalttätig. Nur ein lächelndes Stück Stadtinventar, das sich freut, wenn ihm Leute auf der Straße zunicken.
Im Sommer sitzt Tänzer in Reichardts Garten, irgendwann läuft ihm ein Hund zu. Eine Promenadenmischung, nicht mehr jung, vom Leben gezeichnet. Zwei, die zueinander passen. „Den Hund hat er geliebt“, sind Leute sicher, die ihn trafen, wenn er auf seiner Bank saß, den Flaschensack neben sich und ein Bierchen in der Hand. Matze Tänzer ging nicht viel raus aus seinem Viertel. Wohin denn auch und warum? Hier war alles, was er brauchte, und was er wollte, hätte er woanders auch nicht gefunden.
Die Miete zahlte er bar ein, nach Möglichkeit pünktlich. Wenn er vom Flaschensammeln kam, geladen hatte an Leergut und vollem Bierbauch und Lärm machte im Flur, klingelte er, um sich zu entschuldigen. „Es war nicht zu übersehen, dass er Anschluss suchte“, ist sich ein Bekannter sicher. Matze habe den Leuten im Haus Schokoladentafeln vor die Wohnungstür gelegt, einfach so, ohne Grund. „Man könnte auch sagen, um sich dafür zu bedanken, dass man ihn überhaupt wahrgenommen hatte“.
Er lebt mitten unter allen und ist doch einsamer als der Mann auf der Leiter beim Blick in sein Zimmer. Als die junge Partytruppe nacheinander auszieht, bekommt Matthias Tänzer noch eine Weile Besuch von den Kumpels vom Supermarkt. Die Flaschen kreisen und der Qualm unendlich vieler Zigaretten wabert ins Treppenhaus. Der Vermieter muss zur Besichtigung kommen, weil sich Nachbarn über strenge Gerüche beschweren. „Es sah nicht schön aus in der Wohnung“, wird es später diplomatisch heißen, wo vermüllt die zutreffende Beschreibung wäre.
Kurz danach ist der Hund weg, der nie einen Namen hatte. Die Schwester habe ihn mitgenommen, erzählt Matthias Tänzer den Leuten im Haus. Dabei hat er gar keine Schwester. Er hat auch sonst keine Verwandten, wird das Ordnungsamt später feststellen, als es nach „bestattungspflichtigen Verwandten“ sucht, wie es im Amtsdeutsch heißt. Seine Mutter war zwölf, als sie ihn 1959 zur Welt bringt. Sie ist nicht mehr auffindbar, als sie um ihn trauern müsste.
Aber es ist nicht so, dass der Sohn nicht versucht hätte, aus dem traurigen Drama keine Tragödie werden zu lassen. Im letzten Sommer sollte Schluss sein mit dem Leben zwischen Schnaps und Selbstmitleid. Matthias Tänzer geht zur Kur in eine Suchtklinik in Thüringen. Vermutlich, sagt ein Nachbar, war das seine letzte Chance. Schon im August reist er wieder ab aus Hildburghausen, entlässt sich selbst, fährt nach Haus.
Sein Arzt schickt die Polizei hinterher. Nicht, um ihn zurückzuholen. Matthias Tänzer ist freiwillig gekommen und er kann gehen, wann er will. Nein, nur um zu sehen, wo er geblieben ist. Die Beamten treffen den Patienten zu Hause an, alles gut, danke, auf Wiedersehen. Bei einem der Polizisten gibt Matthias Tänzer später eine auf der Straße gefundene Brieftasche ab. Das Geld ist noch drin. Hat man nicht alle Tage, einen ehrlichen Finder, dem man ansieht, dass er das gefundene Geld selbst brauchen könnte, staunt der Beamte. Das nächste Mal wird er Matthias Tänzer sehen, nachdem sein Streifenwagen zur Wohnung des Toten gerufen wurde. Ja, das ist der mit der Brieftasche, das sieht er sofort.
Matthias Tänzer geht seinen letzten Weg nicht allein. Das Glück, das er ein Leben lang nicht hatte, kriecht auf einmal klebrig hinter ihm her, wo er es nicht mehr brauchen kann. Als Polizei und Krankenwagen vor der Tür stehen, fährt zufällig eine der ehemaligen Nachbarinnen vorbei. Die junge Frau hält und fragt, sie ist bestürzt und traurig. Matze tot. Sie sagt den anderen Bescheid, die damals bei den Dachbodenpartys dabei waren.
Mehr ist es nicht, mehr wird es nicht mehr werden. Zehn Tage hat das Amt, Verwandte oder Freunde zu finden. Vier Wochen danach muss Bestatterin Susann Wanasky den Beisetzungstermin festgelegt haben. Das Amt findet niemanden. Es kommt kein Nachbar, keine Schwester, keine Mutter, kein früherer Arbeitskollege, nicht einer von den Trinkkumpels. Fünfzig Jahre Einsamkeit enden unter einem kalten, grauen Winterhimmel, hinter der Urne laufen vier junge Leute, die Matthias Tänzer sechs oder sieben Jahre zuvor kennengelernt und ihn nicht vergessen haben. 'Wir haben oft Fälle“, tröstet Susann Wanasky, „da sind die Menschen richtig einsam.'"
Quelle: MZ (http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1294645917008)
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